Einige der eindrucksvollsten Videospiel-Soundtracks unserer Zeit schöpfen tief aus der klassischen Musik: inspiriert von Debussy, Chopin oder Wagner – komponiert für digitale Welten, aber voller Gefühl, Struktur und Schönheit. Dieser Artikel lädt Sie ein, fünf dieser Werke kennenzulernen – auch (und gerade) wenn Ihnen die Welt der Videospiele bislang fremd war.
Von einer fremden Welt erzählen, ohne ein einziges Bild zu zeigen – nur mit Tönen. Den Hörer entführen, berühren, verwandeln. Das ist es, was klassische Musik seit Jahrhunderten vermag. Ob in der kühlen Schönheit einer Bach-Fuge oder in der leidenschaftlichen Dramatik eines Beethoven-Sturms: Gute Musik erzählt Geschichten, ganz ohne Worte.
Genau das tut auch die Musik in modernen Videospielen. Sie erzählt von Fantasiewelten, von Heldenreisen, von Verlust, Hoffnung, Schönheit. Und oft tut sie das auf eine Weise, die tief in der klassischen Musik verwurzelt ist. Viele Komponisten von Videospielen sind mit Beethoven, Debussy und Mahler aufgewachsen. Sie lieben große Orchester, klare Themen, fein arrangierte Harmonien – und sie bringen dieses Erbe in die digitale Gegenwart.
Für Menschen, die klassische Musik schätzen, kann es eine erstaunliche Entdeckung sein: Die Musik, die in manchen Videospielen erklingt, ist nicht nur ein Nebenprodukt für ein schönes Hobby. Sie ist Kunst. Und sie steht der großen Konzertmusik verblüffend nahe.
Lassen Sie uns gemeinsam diese Klangwelten betreten. Ich verspreche Ihnen: Sie müssen kein einziges Spiel gespielt haben, um diese Musik zu verstehen – oder zu lieben.
Stellen Sie sich vor: Eine gewaltige Orchesterklangfläche, dunkle Streicher, ein aufbrausender Chor – eine Musik, so dramatisch, dass sie aus einer Oper von Wagner stammen könnte. Aber nein: Sie stammt aus einem Videospiel namens Final Fantasy VII, erschienen erstmals 1997, geliebt von Millionen Menschen weltweit. Die Geschichte mit ihrer deutlichen Kapitalismuskritik, der Öko-Botschaft und einem der tragischsten Momente der Spielegeschichte kann auch heute noch mit einer unvergleichlichen emotionalen Wucht tief ins Herz treffen.
Der japanische Komponist Nobuo Uematsu, der diese Musik schrieb, verehrte Beethoven und Wagner. Und das hört man. Seine berühmteste Komposition, „One-Winged Angel“, beginnt mit einem kraftvollen Chor in Latein – wild, fremd, überwältigend. Wie Wagners "Walkürenritt" oder Carl Orffs "O Fortuna" in den Carmina Burana entfaltet sich hier ein musikalisches Drama, das nicht nur untermalt, sondern miterzählt.
Wie bei Wagner kehren Motive wieder, werden verändert, wachsen mit den Figuren des Spiels. Uematsu baut musikalische Themen wie Charaktere auf – eine Technik, die Wagner als „Leitmotiv“ perfektionierte.
Man muss das Spiel nicht kennen - die Musik allein ist Erlebnis genug. Man spürt: Hier geht es um mehr als Unterhaltung. Es geht um existenzielle Fragen – übersetzt in Musik.
The Legend of Zelda: Ocarina of Time – so heißt ein Spiel, in dem es um eine Reise durch eine märchenhafte, weit offene Welt geht. Wälder, Tempel, Seen, Berge. Keine Gewalt, stattdessen ein leises, träumerisches Abenteuer.
Die Musik? Eine Offenbarung. Komponiert von Koji Kondo, inspiriert von Claude Debussy und Maurice Ravel. Wer Debussys "Clair de Lune" liebt oder Ravels "Pavane pour une infante défunte", wird sich hier zuhause fühlen.
Die Melodien sind schlicht und zart, oft auf einem einzigen Blasinstrument gespielt – einer Okarina, einem alten Tonflöteninstrument. Die Harmonien sind leichtfüßig, schwebend, nicht festgelegt. Wie bei Debussy lösen sich Takte in Stimmungen auf. Man hört keine festen Rhythmen – man hört Licht. Wind. Zeit.
Besonders berührend ist das Stück „Song of Storms“, das wie ein vergessenes Volkslied klingt. Alt und neu zugleich. Musik, die sich nicht aufdrängt, sondern den Raum öffnet – zum Träumen, zum Erinnern.
Ein Weltraumspiel. Ein Science-Fiction-Abenteuer mit Raumschiffen, Soldaten, fremden Planeten. Klingt nach Technik? Die Musik ist das Gegenteil: sie klingt nach Kathedrale.
Der amerikanische Komponist Martin O’Donnell entschied sich, das Spiel Halo nicht mit elektronischer Musik zu untermalen, sondern mit Chören, Orgelklängen, Pauken. Und es funktioniert. Die erste Melodie, die man hört, ist ein Männerchor in einem archaischen, fast gregorianischen Stil. Kein Text – nur Vokale, wie ein uraltes Gebet.
O’Donnell ließ sich inspirieren von Carl Orff, dessen "Carmina Burana" kraftvoll und archaisch klingt, aber auch vom estnischen Komponisten Arvo Pärt, dessen Musik viel Raum lässt – Raum zum Hören, zum Denken. Auch ein bisschen Bach ist spürbar: in der klaren Struktur der Kompositionen, im harmonischen Gerüst.
Diese Musik lässt den Hörer nicht allein. Sie erhebt ihn – ganz gleich, ob man spielt oder nur lauscht.
Ein Spiel, das von einer Welt erzählt, in der es keine Menschen mehr gibt. Nur noch Maschinen. Androiden. Und mittendrin: Musik, die klingt, als würde ein Herz schlagen – langsam, verletzlich, menschlich.
Keiichi Okabe, der japanische Komponist hinter NieR: Automata, arbeitet mit Klavier, leisen Stimmen, sanften Streichern. Vieles klingt improvisiert, fast zerbrechlich. Es erinnert an die introspektiven Klavierstücke von Frédéric Chopin oder an die minimalistischen Werke von Erik Satie – Musik, die nicht erklärt, sondern nur andeutet. Musik, die Raum lässt für Gefühl. „Ich wollte etwas, das wie eine ferne Erinnerung klingt - melancholisch, aber schön. Wir dachten viel über Chopin nach und versuchten auch, Minimalismus einzubringen", so Keiichi Okabe im Interview mit The Verge.
Stücke wie „Weight of the World“ oder „Vague Hope“ sind keine klassischen Kompositionen im traditionellen Sinn. Aber sie berühren auf eine ähnliche Weise. Sie erzählen nicht von Heldentaten – sondern vom Schmerz des Erinnerns. Von Menschlichkeit – gerade dort, wo keine Menschen mehr sind.
Chrono Trigger, 1995 für das legendäre Super Nintendo erschienen, führt seine Spieler durch verschiedene Zeitalter - von der Steinzeit bis in die ferne Zukunft. Und genau so klingt die Musik: wie eine Zeitreise durch die Musikgeschichte.
Yasunori Mitsuda, der junge Komponist, ließ sich hörbar inspirieren von Bach, Tschaikowsky und sogar Igor Strawinsky. Manche Stücke sind klar strukturiert, fast barock – wie kleine Präludien. Andere erinnern mit ihren dramatischen Rhythmen an Strawinskys "Le Sacre du Printemps".
Und dann gibt es plötzlich auch Musik, die wie ein französischer Walzer klingt – leichtfüßig, träumerisch, ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts. Vor allem das Stück „Corridors of Time“ sticht mit seiner puren Schönheit heraus: ein schwebendes Thema, das in sich zu kreisen scheint. Wie eine musikalische Uhr, die nicht tickt, sondern tanzt.
Die Stücke, die in diesen Spielen erklingen, haben vieles von dem, was wir an klassischer Musik lieben: Tiefe, Gefühl, Handwerk, Schönheit. Vielleicht ist es an der Zeit, den Konzertsaal einmal zu verlassen und das Ohr zu öffnen – für neue Klangwelten, die sich auf alte Weise erzählen. Für Musik, die nicht nur gespielt wird, sondern weiterspielt.
Denn eines ist klar: Klassik lebt. Manchmal in der Konsole – aber immer im Herzen.