Normalerweise spielt drin die Musik: im Gasteig in München, Europas größtem Kulturzentrum. Doch aktuell steht das Dach des Gebäudes im Mittelpunkt! Denn dort findet gerade das „Türmer Projekt" statt
…wer in München am Gasteig vorbeigeht und den Kopf in den Nacken legt, kann hoch oben auf dem Dach eine kleine Holzhütte mit großen Fenstern sehen. Dort steht jeden Tag zum Sonnenauf- und untergang ein Mensch und “wacht” eine Stunde lang über die Stadt -ohne Handy, ohne Uhr, oder sonstige Ablenkung: wie früher die Turmwächter im Mittelalter. Auch Max Wagner, ausgebildeter Opernsänger und der Geschäftsführer des Gasteigs, hat schon über die Stadt gewacht:
"Es geht ja auch sehr stark um Achtsamkeit und ich glaube, dass ist in unserer Zeit besonders wichtig, das man mal wieder merkt 'wie geht es einem' und sich sammelt. Und diese Stunde, die man dort verbringt - eben ohne Handy, ohne Uhr - man hat da eben wirklich mal eine Stunde im direkten Kontakt mit dem Ort, in dem man lebt. Das hat mich sehr gereizt, das zu machen. Ich meditiere selber und das ist ja eine Art Meditation, verbunden mit der Idee einer künstlerischen Herangehensweise. Sozusagen eine 'Choreografie für die Stadt' wie es die Choreografin nennt."
Dabei soll sich die Frage stellen, ob die Stadt auf den Türmer und seine Performance blickt oder umgekehrt: ob der Türmer die Stadt und ihre Performance beobachtet.
Denn aus der Vogelperspektive gibt es viel zu entdecken und auf einmal tauchen auch völlig unerwartete Gedanken und Gefühle auf, weiß Max Wagner zu berichten: "Türmer sind ja Leute, die über die Stadt gewacht haben und man bekommt so etwas fürsorgliches für die Stadt irgendwie. Ich habe mir gedacht, diese ganzen Häuser, die sich so zusammenducken: wie geht es diesen Menschen wohl gerade. Und was mich auch bewegt hat: im Gasteig sind ja auch oft Wohnsitzlose und es war gerade die Zeit, in der wir die Türen ganz schließen mussten und es war ja auch kalt. Da hab ich mir gedacht:
Wo sind diese Menschen, die sonst bei uns sind? Hoffentlich geht es ihnen gut.
Durch die Vogelperspektive nimmt man die Stadt auch ganz anders wahr und mit feinen Antennen auch ihre musikalischen Schwingungen: "Ich bin ja selber Musiker, deswegen finde ich, irgendwie alles ist Musik: Rhythmus und Melodie. Und es ist die Melodie der Stadt, die einem dort in diesem Moment präsentiert wird, mit verschiedenen Dingen, wie z.B. Vögeln, die dann wie kleine Einwürfe einer Piccoloflöte sind", beschreibt Max Wagner poetisch.
Nach eigenem Singen war dem ausgebildeten Opernsänger in dieser besonderen Stunde über der Stadt allerdings eher nicht: "Vielleicht hätte ich danach gerne gesungen, von den Erlebnissen, die ich gemacht habe. Es gibt ja z.B. viele Stücke von Schubert oder Schumann, die gerade diese Poetik und diese romantischen Momente gut beschreiben. Aber ich finde, wenn man singt, dann teilt man ja etwas mit, hat eine Aussage - es gibt ja auch immer einen Text. Und das war in diesem Moment nicht nötig."
Den schönsten Moment seiner Türmer-Erfahrung hat Max Weber die Stadt im Zusammenspiel mit der Natur geschenkt: "Ich hab ja beim Sonnenuntergang die Stunde gemacht und genau, als die Sonne gerade untergegangen war: das war so ein friedlicher Moment. Und das in dieser Zeit! Das war für mich eigentlich auch das Motto dieser Stunde: dieses Gefühl der Geborgenheit."
Um auf die Erfahrung als Türmer gut vorbereitet zu sein, gibt es zuvor auch einen Vorbereitungsworkshop. Zum einen lernen sich so die zukünftigen "Türmer" untereinander kennen und begreifen sich als Gemeinschaft. Zum anderen bringen dort Tänzerinnen und Tänzer den Turmwächtern in Übungen bei, wie man die eine Stunde stehend auf dem Dach übersteht, ohne später auf allen Vieren aus dem Holzbau zu kriechen.
Mitmachen kann jeder ab 16 Jahren auf der Website des Projekts. Die Performance der australisch-belgischen Choreographin Joanne Leighton geht noch bis zum 12. Dezember 2021. Zuvor war sie u.a. in Graz, in Rennes und in Freiburg zu den nächsten Stationen gehören Paris und Kingston upon Hull.
(04.05.21/K.Jäger)