Mitten im Herzen Manhattans, tief in den Archiven der Morgan Library & Museum, stößt Kurator Robinson McClellan auf ein unscheinbares Manuskript, das sich schnell als wahrer Musik-Schatz entpuppt. Ein Blatt Noten – darunter ein Name in geschwungener Tinte auf das Papier gebracht: „Chopin“. Eine Entdeckung, die jetzt für Aufsehen in der Welt der Klassik sorgt.
McClellan, selbst Komponist und stets auf der Suche nach verborgenen Perlen, hielt das Manuskript in den Händen und wusste instinktiv, dass hier etwas Besonderes verborgen lag. Als er das zierliche Notenblatt, kaum größer als eine Postkarte, genauer betrachtete, erkannte er das Wort „Valse“ – „Walzer“. Konnte das wirklich ein Werk des großen Romantikers sein? Getrieben von dieser Frage setzte er sich ans Klavier, ließ die leisen, dissonanten Töne erklingen, die ich mit der Zeit zu einem kraftvollen Crescendo aufbauten.
Kurz darauf schickte er ein Foto des Manuskripts an den renommierten Chopin-Experten Jeffrey Kallberg von der University of Pennsylvania. Als dieser das Bild sah, war diesem sofort klar, dass man hier auf etwas ganz Besonderes gestoßen war. Das war der Beginn einer intensiven Untersuchung, bei der jedes Detail des Dokuments unter die Lupe genommen wurde – von der Tinte bis zur einzigartigen Notenschrift Chopins.
Nach eingehender Prüfung durch führende Fachleute zog die Morgan Library schließlich die aufregende Schlussfolgerung: Es handelt sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um ein bislang unbekanntes Werk des großen Komponisten. Es ist das erste neue Chopin-Stück, das in mehr als 50 Jahren ans Licht gekommen ist – eine kleine Sensation, die nicht nur Musikwissenschaftler, sondern auch Klassik-Liebhaber in Entzücken versetzt.
Solche posthumen Entdeckungen sind zwar eine Seltenheit, aber sie kommen hin und wieder doch vor: So wurde erst kürzlich in einer Leipziger Bibliothek eine bisher unbekannte Komposition Mozarts entdeckt, liebevoll als „Ganz kleine Nachtmusik“ bezeichnet.
Wie Chopins Manuskript in die Morgan Library gelangte, bleibt unklar. Es gehörte einst einem Sammler namens A. Sherrill Whiton, einem begeisterten Autogrammjäger und Amateurkomponisten. Die Sammlung kam erst 2019 als Schenkung an das Museum, lag aber während der Pandemie jahrelang unbemerkt in den Archiven.
Nachdem die New York Times von der Entdeckung erfuhr, wurde der Starpianist Lang Lang gebeten, den Walzer für eine Aufnahme zu spielen. Der Pianist, der Chopins Werk wie kaum ein anderer verinnerlicht hat, war beeindruckt. „Es ist nicht die komplexeste Musik von Chopin“, sagte er, „aber es ist eine der authentischsten Chopin-Stile, die man sich vorstellen kann.“
Die Entdeckung des neuen Walzers fügt sich nahtlos in das Vermächtnis eines Komponisten ein, dessen Musik von Melancholie, Sehnsucht und Leidenschaft durchzogen ist. Frédéric Chopin, 1810 geboren, verließ Polen als junger Mann und ließ sich in Paris nieder, wo er zu einem Meister der romantischen Klaviermusik reifte. Seine Heimat, die politischen Unruhen in Polen und die Ferne zur Familie prägten sein Werk – und verleihen seinen Stücken jene bittersüße Tiefe, die seine Musik so einzigartig macht. Seine Walzer, Mazurken und Nocturnes waren keine bloßen Tanzmelodien, sondern kleine musikalische Gedichte, die voller Gefühl und oft auch voller Schmerz waren.
Der neu entdeckte Walzer, der zwischen 1830 und 1835 entstanden sein soll, spiegelt diese Intensität wider. Mit seinen 48 Takten ist er kurz, fast wie ein musikalischer Augenblick eingefrorener Emotion. Pianist Lang Lang beschrieb die unverhoffte Entdeckung begeistert als „voller Chopinscher Seele“. Die ruppige Eröffnung erinnere ihn an die rauen Winterlandschaften Polens.
Für die Experten der Morgan Library ist die Authentizität des Walzers inzwischen so gut wie gesichert. Die Handschrift, das Papier, die Tinte – all diese Merkmale passen zu Chopins bekannten Werken. Auch der exzentrische Bassschlüssel, den der Komponist oft in einer eigentümlichen Form zeichnete, ist auf dem Manuskript zu finden.
Doch trotz der offensichtlichen Indizien bleibt der Walzer ein kleines Mysterium. Vielleicht ein Stück, das Chopin als intimen Gruß an eine Freundin schrieb? Oder eine musikalische Idee, die er nicht weiterverfolgte? Fest steht, dass Chopin zu Lebzeiten häufig kleine Werke verschenkte, die nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren. Die Tatsache, dass das Manuskript unsigniert blieb, könnte ein Hinweis darauf sein, dass er selbst unsicher über den Wert des Stückes war.
In der Musikwelt gibt es wohl kaum etwas Spannenderes, als die Entdeckung eines neuen, unbekannten Meisterwerks – und für Chopin-Fans gleicht diese Nachricht einem kleinen Wunder. Sie beweist, dass es auch und gerade in der Klassikwelt immer noch Geheimnisse und Überraschungen gibt, die es zu entdecken gilt. Der neue Walzer öffnet eine weitere Tür zu Chopins Leben und Schaffen und lässt seine Musik für einen Moment wieder lebendig werden.
Wenn Sie tiefer in die Musik des polnischen Romantikers eintauchen möchten, haben wir auf unserem Klassik Radio-Select Sender „Best of Frédéric Chopin“ die schönsten Werke des Komponisten für Sie zusammengestellt.