Aktuell findet in München täglich ein spektakuläres Konzert statt: Der Pianist Alain Roche spielt in luftiger Höhe seinen Flügel - senkrecht an einem Kran hängend.
Jeden Tag, vor dem Sonnenaufgang versammeln sich bis zu 80 Leute im Werksviertel Mitte Kunst in München, um ein außergewöhnliches Ereignis zu erleben. Denn in gut 10 Metern Höhe hängt der Schweizer Künstler Alain Roche mitsamt seinem Flügel, senkrecht an einem Kran und spielt ein Konzert. Sein Orchester: die Natur. „Wir haben Mikrofone an unterschiedlichen Orten in ganz Bayern, unter anderem zum Beispiel, bei der Teufelshöhle Pottenstein. Wir sind auf der Zugspitze als höchsten Punkt Bayerns. Wir haben Mikrofone am Ferchenbach bei Schloss Elmau in einem Moor bei Bad Heilbrunn im bayerischen Wald. Also das heißt, wir sind quasi verbunden mit ganz Bayern. Diese Klänge kommen an in München jeden Morgen und werden von einem Sounddesigner oder einer Soundesignerin in das Klavierspiel von Alain Roche eingespielt. Das heißt, Alain hört diese Klänge gleichzeitig wie das Publikum, auch zum ersten Mal in diesem Moment", erklärt Dr. Martina Taubenberger, künstlerische Leiterin des Werksviertels Mitte Kunst.
Diese 40 Orte wurden dabei mit besonderem Bedacht ausgewählt: „Wir sind bewusst auch an Schauplätze gegangen, die die ganze Schönheit, die Biodiversität, auch Bayerns, zum Ausdruck bringen und möchten ein Stück weit auch darauf hinweisen, dass auch diese Lebensräume gefährdet sind, dass wir über unser Verhältnis zur Natur nachdenken müssen und das möchten wir ins Bewusstsein rufen. Und ich denke, dass gerade so ein künstlerisch-musikalischer Ansatz dafür sehr gut geeignet ist, weil es über die Emotion geht und nicht nur über den Intellekt“, ergänzt die Veranstalterin mit einem Lächeln.
Doch das ist nicht die einzige Message, die das Projekt „When The Sun Stands Still“ vermitteln möchte. Es geht auch um das Thema Transformation: zum einen, wie der Himmel sich von der Dunkelheit ins Helle wandelt, zum anderen auch hier um den Wandel der Natur im Laufe der Jahreszeiten. So ist das Projekt pünktlich mit der Sonnenwende am 22. Dezember 2023 gestartet und läuft noch bis zur nächsten Sonnenwende am 20. Juni 2024.
Darüber hinaus hat es auch eine gesellschaftliche Message, erklärt Dr. Martina Taubenberger: „Das Projekt findet nicht zufällig auf dem Bauplatz des künftigen Konzerthauses des Freistaats Bayern statt. Wir möchten auch ein Zeichen setzen. Wir glauben an dieses Konzerthaus. Wir hier im Werksviertel Mitte Kultur sind der Meinung: Downsizing ist nicht das, was zu visionäre Projekten führt. Sondern man muss groß denken, man muss mutig sein. Gerade die Kunst muss mutig sein können und muss Raum bekommen, sich zu entfalten. Und dafür kämpfen wir ein Stück auch, kann man sagen, mit Haut und Haar, jeden Morgen in Kälte, Schnee und Eis und Regen. Wir möchten dieses Konzerthaus und wir möchten es hier und in einer Größe, die auch was bewirken kann!"
Also ein Projekt - viele wichtige Botschaften. Doch wie kommt man überhaupt auf seine verrückte Idee? „Schon als Kind habe ich gerne Dinge betrachtet und versucht, sie als etwas anderes zu sehen, als sie sind. Die Decke meines Zimmers z.B. so, als sei sie der Boden. Und so kam mir eines Tages die Idee, meinen Flügel umzudrehen und in die Luft zu hängen – wie einen Vogel oder eine Feder, die in den Himmel fliegt. Damit soll der Betrachter eingeladen werden, Gewöhnliches und Alltägliches mit anderen Augen zu sehen“ erklärt der Schweizer Künstler Alain Roche. Er findet: Nachdem wir unser ganzes Leben eigentlich eher auf die Erde fixiert seien, soll dieses Projekt eine Verbindung zwischen Erde und HImmel herstellen und so den Blick auf den Himmel lenken, wo die Nacht zum Tag wird. „Die unendliche Poesie, wenn die Nacht zum Tag wird und die Verbindung von Klaviermusik (…) und Naturgeräuschen in Bayern und der Schweiz lassen das Publikum ein immersives Abenteuer erleben“, davon ist er überzeugt.
Und das Publikum gibt ihm Recht - die ersten Vorstellungen während der Weihnachtsferien waren stets ausverkauft, doch auch an vergangenem Wochenende und selbst unter der Woche und bei klirrender Kälte finden sich Tag für Tag zehn bis 30 Leute ein. „Wir sind überwältigt. Damit hätten wir nicht gerechnet. Die Leute harren aus in Schnee und Eis und Kälte. Das Münchner Publikum ist unglaublich“, schwärmt Dr. Martina Taubenberger. „Das Publikum ist begeistert, gerührt und angerührt. Alle sind natürlich hin und weg von Alain Roche, (…) der sich da jeden Tag der Unbill der Natur auch aussetzt. Ich glaube, wenn man unten sitzt und friert und sich dann vorstellt, dass man oben am Kran hängt und dabei noch Klavier spielt, dann entsteht so etwas wie eine besondere Beziehung zwischen Publikum und Künstler. Wir haben auch Leute, die jetzt schon das dritte Mal da waren, jeder Zweite der hinausgeht, sagt er oder sie möchte unbedingt noch einmal wieder kommen, zu einem anderen Zeitpunkt, einfach zu sehen, was sich verändert hat, wie es sich weiterentwickelt. Ich habe das Gefühl, dass wir fast so eine Art Gemeinschaft aufbauen rund um dieses Projekt, das ist auch für uns ein wahnsinnig schönes Gefühl und sehr erfüllend. Das ist vielleicht auch so das Fazit: die Menschen gehen mit einem erfüllten Gefühl nach Hause." Wenn Sie nun neugierig geworden sind: bis 20. Juni 2024 findet das Konzert jeden Tag im Werksviertel Mitte Kunst in München statt. Alle Infos auf der Website von „When The Sun Stands Still“.